SCHREI AUF e.V.

Schattengestalten im Licht

Projektname: Schattengestalten im Licht

Datum,Ort: 28.04.2018, Sonnenhausplatz, Mönchengladbach

Projektleitung: Laura Heyer

Beteiligte Person/en (mit Rollen) : Ensemble „ HÄSSLICH“

Im Rahmen des einjährigen Theaterprojekts „ HÄSSLICH“ sollte eine Straßenperformance entwickelt werden, die einerseits als Werbeaktion auf den Start der Aufführungen aufmerksam machen sollte, andererseits die Thematik des Theaterstücks, nämlich Essstörungen und Dysmorphophobie, in anderer, inklusiverer Form in die Öffentlichkeit bringen sollte und außerdem den SchauspielerInnen als Übung und Erfahrungswert dienen sollte.

Der Grundgedanke des Projekts war, über ein Thema, das in der Gesellschaft weitgehend nicht behandelt wird, aufzuklären, für Sensibilisierung, Verständnis und Sichtbarkeit zu sorgen. Die Essstörung ist eine der Verbreitesten Krankheiten und die Magersucht, nur eine von vielen Formen der Essstörung, die psychische Krankheit mit der höchsten Sterberate. Trotzdem kursieren viele Vorurteile und falsche Annahmen z.B. dass Essgestörte immer dünn sind, dass Essgestörte einfach nicht essen oder dass Essstörungen nur aufgrund gewisser Schönheitsideale entwickelt werden. Ziel des Projektes war, Menschen einen differenzierteren und gleichzeitig tieferen Einblick in das Thema zu verschaffen und das unzensiert. Uns war es wichtig, auch das Leid und die erheblichen psychischen und physischen Folgen und Komplikationen einer Essstörung so ehrlich und wirklich wie möglich zu thematisieren. 

Innerhalb des Theaterstücks wurde stilistisch mit den Farben Schwarz und Weiß gearbeitet, die, wenn sie sich vermischen, zu grau werden. Die vier HauptdarstellerInnen, die im Theaterstück verschiedene Figuren spielten, die an einer Essstörung erkranken, trugen weiße T-Shirts und waren mit weißer Körperfarbe bedeckt. Sie symbolisierten damit das Rohe, das Unberührte, das Unschuldige, die weiße Leinwand oder auch die Reflexion von Licht. Sie sind das Gegenstück zu den „Krankheiten“, den Essstörungen. Diese wurden ebenfalls von vier SchauspielerInnen gespielt, welche schwarz gekleidet und schwarz geschminkt waren. Sie standen im Theaterstück für den Schatten, für das Unberechenbare, die Dunkelheit. Während des Stücks kommt es zur Verschmelzung beider Seiten, sodass die Hauptfiguren und die Krankheiten sich vereinigen zu einer grauen Masse. Das Grau stand dabei für das Unsichtbare, das Unkenntliche und damit für den Grad des Sichtbaren in der Gesellschaft, welcher gleichzeitig kritisiert wird. Das „Endprodukt“ aus schwarz und weiß sollte in dieser Performance in die Öffentlichkeit gebracht werden.

Für das Theaterstück befasste sich das Ensemble außerdem mit der Tanzform „Butoh“, eine japanische Balletart, bei der hauptsächlich von innen heraus getanzt wird und dabei nach außen eine skurrile, teils bedrohliche Wirkung erzeugt wird. Durch sehr langsame, nicht choreographierte  Bewegungen, die von schnelleren Bewegungen unterbrochen werden (wie Zucken) ist dieser Tanz für Außenstehende schwer einzuschätzen, was zum Einen Interesse weckt und zum anderen den Interpretationsgrad erhöht. Natürlich war es der Gruppe nicht möglich, innerhalb eines Jahres die Tanzform vollständig zu erlernen. Sie hatten mehrere Übungsstunden bei einem erfolgreichen Butoh-Tänzer und Tanzpädagogen, in denen sie lernten, sich den Tanz zu Eigen zu machen, umzuformen und in das Theaterstück mit einzugliedern. So sollte neben der grauen Körperbemalung Butoh als Grundlage der Performance dienen.

Das Ziel der Performance war nicht, detailliert über das Thema aufzuklären. Zusammenhänge sollten nicht direkt hergestellt werden können. Dies war Aufgabe des Theaterstücks. Es ging um die Verbildlichung und das Geschehen lassen eines Phänomens, nämlich die Herstellung eines Kontakts zwischen Schatten und Licht, die Sichtbarkeit des Unsichtbaren und die überraschende Konfrontation mit dem Unbekannten, dem Unbequemen, dem Unbehaglichen, dem Unberechenbaren. Es ging darum, Menschen mit etwas zu konfrontieren, was sie tagtäglich umgibt, aber niemals wirklich an sie hindurch dringt. Es ging um die Auseinandersetzung mit etwas, mit dem man sich nicht auseinandersetzen will.  

Um so viele Menschen wie möglich zu erreichen, wählten wir den Sonnenhausplatz direkt vor dem Einkaufszentrum „Minto“ aus. Als Zentrum von Konsum ,Selbstoptimierung und auferlegten Schönheitsidealen durch Modegeschäfte und Plakate erschien uns der Ort ebenfalls als geeignet. So sollten sich die PerformerInnen über den gesamten Vorplatz in Richtung „Minto“ fortbewegen, wo die Performance kurz vor den Türen des Einkaufszentrums mit einem Schrei enden sollte. Die Performance sollte über einen Zeitraum von 45 Minuten stattfinden.

Als Treffpunkt zur Vorbereitung diente ein Wohnhaus in der Altstadt. Von dort aus lief die Gruppe grau bemalt, in schwarzer, ebenfalls grau beschmierter Kleidung, barfuß am Museum Abteiberg vorbei Richtung Sonnenhausplatz, wo die Performance stattfinden sollte.

Bereits auf dem Weg zum Spielort wurden Passanten auf die Gruppe aufmerksam. Kurz vor dem Sonnenhausplatz gab die Projektleitung ein Zeichen und die Gruppe begann mit ihrer Performance. Zunächst lief die Gruppe gemeinsam eine Steigung hinunter, ihre Bewegungen angelehnt an das Laufen im Butoh, glasige Blicke, hängende Kiefer, offene Münder, langsame Bewegungen. Schon an dieser Stelle zog die Gruppe die gesamte Aufmerksamkeit der dort anwesenden Menschen auf sich. Es dauerte nur wenige Minuten bis die ersten Menschen ihre Smartphones zum Filmen und Fotografieren benutzten. Als die Gruppe auf dem Vorplatz ankam, verteilten sich die einzelnen PerformerInnen und tanzten unabhängig voneinander in eigener Geschwindigkeit und eigener Motivation. Immer mehr Menschen versammelten sich. Die Meisten wahrten Abstand. Einige jedoch, darunter auch viele Kinder und Jugendliche, suchten immer wieder den Kontakt zu den PerformerInnen.

Hin und wieder begegneten sich PerformerInnen und Passanten augenscheinlich, allerdings gingen die PerformerInnen immer wieder aus dem Kontakt heraus und zogen sich wieder zurück in die Welt des Butoh, die für alle anderen nur von außen erkennbar, aber von innen nicht nachvollziehbar war. Dies führte bei vielen Menschen zu Verunsicherung, teilweise auch Angst. Es entstand ein Spiel aus Interesse und Angst. Mal konnten Berührungen angedeutet werden, mal wurden sie ganz plötzlich wieder entzogen. Das Verhalten der PerformerInnen war für die Passanten nicht schlüssig, es war beinahe unmenschlich, daher unberechenbar, ähnlich wie bei einem Spinnentier. Gerade das schien immer wieder Neugier zu wecken.

Immer wieder fiel der Begriff „Zombie“. Menschen versuchten Bezüge herzustellen zu Dingen, die sie kennen. Sie versuchten, die Situation einzuordnen. Der Begriff „Zombie“ kam der Figur, die dargestellt wurde, tatsächlich sehr nahe. Das Bild des Untoten entspricht ja in gewisser Weise dem Bild einer Frau/eines Mannes mit Essstörungen im späten Stadium. In jedem Fall, was die Magersucht betrifft. Als die Gruppe in etwa an den Treppen vor dem Eingang des Einkaufszentrums ankam, war der gesamte Platz gefüllt mit Zuschauern.

Durch die gescheiterten Versuche der Menschen, auf menschliche Weise mit den PerformerInnen Kontakt aufzunehmen, war bereits klar, dass die PerformerInnen in gewisser Weise auch schutzlos sind, da sie aus ihrer Rolle nicht ausstiegen. Während die PerformerInnen über die Stufen krochen, schlichen, wackelten, näherte sich ein Mann der Projektleitung, welche ebenfalls als Performerin dabei war, von hinten mit den Worten „ Und was ist, wenn ich dich jetzt küsse? Da kannst du nichts machen.“ Der Mann schmiegte sich an sie heran und küsste sie auf den Hinterkopf. Die Performerin entschloss sich dazu, auch hier in ihrer Rolle zu bleiben, drehte sich zu dem Mann um deutete eine Bewegung an, die als Abwehr verstanden werden konnte. Während die ersten anderen Zuschauer interagierten und eingriffen, kamen weitere PerformerInnen hinzu. Der Mann wurde letztlich von den PerformerInnen umgeben und eingekesselt, was ihm sichtlich unangenehm war. Er zog sich zurück. Daraufhin schrie die erste Performerin, es folgten die Schreie der anderen Gruppenmitglieder und die Performance war beendet.

Der Mann, der die Performerin nötigte, kam nach der Performance noch einmal zurück und entschuldigte sich für sein Verhalten.

Wie vorher schon bedacht, wurden keine Bezüge zum Thema Essstörungen hergestellt, zumindest wurde es weder während noch nach der Performance angesprochen.

Grundsätzlich waren die Reaktionen der Menschen sehr verschieden. Rückmeldungen zufolge, erlebte aber die Mehrheit ein Gefühl von Unbehagen, von Unwohlsein und von Verunsicherung.

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