SCHREI AUF e.V.

SCHREI AUF!

Ein Theaterstück von Laura Heyer

November 2016- Mai 2017, Projekt 42

In Kooperation mit dem Projekt 42, Waldhaus 12 e.V., Kulturbüro Mönchengladbach, Hotel Oberstadt (Niels Coppens)

„Mein erster Schrei war der Beweis dafür, dass ich lebe, dass ich atme, dass mein Herz schlägt.“

Ensemble:  Michelle Skropke, Melissa Strücken, Momo Schiffer, Anatolij Zoblin, Patrick, Kira Hein, Annika Beines, Leonie Dahmen, Matthias Wohlkittel, Samson, Mark Lektor, Laura Heyer

 Band: Henry Skibbe (Bass), Paul Schmoranzer (Gitarre), Jakob Matthias (Schlagzeug), Robert Bährig (Gitarre)

Hang Drum: Josef Jakobs

Licht: Maik Schlösser

Fotos: Patrick Heyer

Helfer und Unterstützer: Iryna Diamant, Idil Hassan, Rüdiger Kluth, Jens Hennekes, Inga Rosen, Meikel, Mannfred Grasse, Andreas Ochotta, Nadege Ribitzki

Der belgische Künstler Niels Coppens, der zuvor sein Kunststudium an der Koninklijke Academie Voor Schone Kunsten in Gent abgeschlossen hat, erhielt Anfang des Jahres 2016 ein Stipendiat der StadtMönchengladbach. Nach seinem Kunststudium gründete er zusammen mit den Künstlern Pepijn Kennis und Felix Aerts die Organisation „Toestand“, welche sich mit der Reaktivierung von leerstehenden Gebäuden befasst. Ihm wurde vom Kulturbüro für sechs Monate leerstehendes Hotel auf der Hindenburgstraße, einer Einkaufsstraße in der Mönchengladbacher Innenstadt, zur Verfügung gestellt, in welchem er die Prinzipien seiner Organisation anwenden konnte.

Das ehemalige Hotel wurde mehr und mehr ein Ort der Begegnung, ein Ort für Kunst und Kultur, ein Ort „Von allen für alle“. Nach und nach bildete sich eine Kerngruppe, die sich um die Gestaltung und Pflege der Räume kümmerte und Veranstaltungen organisierte. Neben einigen AkteurInnen aus der Kulturszene befanden sich in der Gruppe Menschen aus unterschiedlichsten Berufsgruppen und sozialen Strukturen. Auch die Künstlerin Laura Heyer, welche zu dem Zeitpunkt im 2. Semester Kulturpädagogik studierte, war Teil des Kollektivs.

Die Künstlerin setzte zuvor ihre Schwerpunkte in der Schriftstellerei, dem Schreiben von Songtexten, Gedichten und Kurzgeschichten, in der Musik, vor allem im Bereich Gesang und in der Malerei. Im Rahmen ihres Studiums nahm sie an einem Theater-Kurs teil, welcher bei ihr die Faszination für das Medium weckte. Ein Medium, das alle Medien miteinander vereinen konnte – genau das hatte sie gesucht. Sie entwickelte zusammen mit Kathrin Neubauer eine Spielszene für den Theater-Kurs in der Hochschule, die wohl der Anfang von etwas Großem sein sollte: In dieser Szene ging es um den Tanz mit dem eigenen Dämon, das sich zum Ziel macht, Körper und Geist zu zerstören. So ging es um das fremdbestimmte Zerstören des eigenen Bildes oder auch um Depressionen und andere psychische und emotionale Krisen, die zur Selbstzerstörung führen. Diese Thematik war für die Künstlerin nicht nur ein abstraktes Thema, sondern Gegenstand jahrelanger Erfahrungen. Mit der neuen Kenntnis über ein neues, scheinbar grenzenloses Medium und der inneren Notwendigkeit, diese Erfahrungen und Empfindungen auszudrücken, entstanden weitere szenische Ideen und Bilder. Wenig später stand der Entschluss fest: Das nächste Projekt wird die Entwicklung und Aufführung eines Theaterstücks, das sich genau mit diesen Thematiken beschäftigt und auch anderen Menschen eine Basis bieten sollte, ihre Empfindungen und Erfahrungen auszudrücken.

Innerhalb des Kollektivs „Hotel Oberstadt“ fand die Künstlerin Gleichgesinnte. Oft waren psychische und emotionale Krisen Thema tiefgehender, persönlicher Gespräche unter den Akteuren. So rief Laura Heyer innerhalb der Gruppe auf: Mitwirkende/ SchaupielerInnen zur Entwicklung eines Theaterstücks gesucht! Unter dem einstigen Titel „something I never said- etwas, das ich nie gesagt habe“ suchte die Künstlerin nach DarstellerInnen und kündigte die erste Probe an. Zu diesem Zeitpunkt existierte nicht mehr als die eben erwähnten szenischen Ideen und ein paar Begriffe, die die Charakteristik des Theaterstückes beschreiben sollte:

Verstörend, verwirrend, psychedelisch, Traum vs. Realität, Fallen, Wut, Selbstzerstörung, Massenphänomene, Dunkelheit, skurril, Panik, Angst, Suizid, Drogen, Punk Rock, Blut, Besinnungslosigkeit, Vergewaltigung in jeglicher Form, inneres Zerfressen, Verwahrlosung, alte Gebäude (Leere), Schreie, Weinen. Außerdem sollte sich das Theaterstück stark vom klassischen Literaturtheater abgrenzen.

Bei der ersten Probe im Hotel waren mehr als 17 Interessierte anwesend, darunter nur eine einzige Person mit Schauspielerfahrung und nur wenige Leute, die sich überhaupt vorstellen konnten, vor Publikum auf einer Bühne zu stehen. In den nächsten Wochen verließen immer mehr Menschen die Gruppe und neue stießen hinzu. Als Grundlage für ein Theaterstück, das an einem Tag X aufgeführt werden soll, war dies natürlich nicht optimal. Jedoch trug jede Person, auch die, die sich gegen die Teilnahme entschlossen, erheblich zu der Weiterentwicklung des Theaterstückes bei.

In den ersten drei Monaten arbeitete die Gruppe zunächst intensiv an der Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen und Empfindungen mithilfe theaterpädagogischer, kulturpädagogischer und teils theatertherapeutischer Methoden. Die Gruppe begegnete ihrem inneren Kind, konnte sich aussprechen über die Missstände, die sie in der Gesellschaft erkannten und die Missstände, die sie bereits in ihrem persönlichen Leben erfahren hatte. Die Gruppe lernte, wie sie ihre Gefühle bildlich und performativ darstellen kann und entwickelte langsam die ersten Szenen. Darüber hinaus lernten sie sich kennen, lernten einander zu vertrauen und wurden Freunde.

Währenddessen beantragte Laura Heyer eine Förderung beim Kulturbüro: 900 Euro für Requisiten, Technik und Honorare – zu heutiger Zeit unvorstellbar. Da das Stipendiat für das „Hotel Oberstadt“ beendet war und die Räume nicht mehr zugänglich waren, probte die Gruppe zunächst im ehemaligen Ladenlokal des Waldhaus 12 e.V. in Mönchengladbach-Eicken, welches als Aufführungsort allerdings nicht in Frage kam. Auf der Waldhausener Straße in der Mönchengladbacher Altstadt lernte Laura Heyer letztlich Andreas Ochotta kennen, den Geschäftsführer des Projekt 42 und vereinbarte mit ihm, in seinen Räumlichkeiten proben und aufführen zu können. Die höhlenartigen, dunklen Gemäuer des Projekt 42 waren der perfekte Aufführungsort für dieses Stück, welches zu diesem Zeitpunkt den Arbeitstitel „ Aufschrei-das Kind in mir“ trug. Die Gruppe zog also um und während der Proben im Projekt 42 nahm das Theaterstück immer mehr Gestalt an: Es sollte eine Szenencollage werden, die den Ablauf bzw. die verschiedenen Stadien einer bzw. mehrerer emotionaler Krisen und deren Hintergründe behandelt und sich in vier Phasen unterteilte, anhand derer weiter gearbeitet wurde: Endlich hatte sich auch die Gruppe geformt und war nun ein zwölfköpfiges Ensemble.

Anhand der Kategorien Erde, Feuer, Wasser und Luft stellvertretend für Anfang, Auslöser, Eskalation, Rehabilitation und Wiedereingliederung orientierte sich die ästhetische Gestaltung der verschiedenen Szenen hinsichtlich Schauspiel, Kostüm und Maske, Requisiten und musikalischer Begleitung. Die bis dahin entwickelten Solo- und Gruppenszenen wurden den verschiedenen Kategorien und Stadien zugeordnet. Innerhalb der Arbeit war es wichtig, dass jeder Schauspieler und jede Schauspielerin ein persönlicher Moment auf der Bühne zukam, sei es durch eine eigene Szene oder wechselnde Protagonisten in Gruppenszenen. Jede Person aus dem Ensemble sollte die Möglichkeit bekommen, sich in dem Theaterstück zu verewigen und eine bestimmte Empfindung oder Erfahrung transformieren zu können.

Neben der allmählichen Produktion der Kostüme und Requisiten, welche bis kurz vor der ersten Aufführung größtenteils in Laura Heyer‘s WG-Zimmer gelagert wurden, darunter eine Badewanne, ein Schlagzeug, verschiedene Eimer und Wannen und Stoffe, wandte sich Laura Heyer an den Musiker Jakob Matthias, welcher dann zusammen mit Robert Bährig Songs für die einzelnen Szenen entwickelte, welche während der Aufführungen live gespielt werden würden. Außerdem entstand der Kontakt zu Josef Jakobs, welcher ebenfalls eine Szene mit seiner Hang Drum musikalisch begleiten sollte. Josef übernahm außerdem die technische Unterstützung hinter den Kulissen und trug mit seinen Erfahrungen aus dem Klettersport dazu bei, dass wir eine Schauspielerin sicher von der Decke abseilen konnten. Über die Schauspielerin und Künstlerin Michelle Skropke entstand ein Kontakt zu Maik Schlösser, der sich bereit erklärte, die Lichttechnik für das Theaterstück zu übernehmen.

Weiterhin ging es darum, einen Namen für das Theaterstück zu finden sowie einen Namen für das Kollektiv. Gemeinsam einigte sich die Gruppe auf „SCHREI AUF!“ sowohl für das Theaterstück, als auch für das Kollektiv. Dementsprechend konnte das Theaterstück als „Debüt-Stück“ betrachtet werden, auf das weitere folgen sollten. Laura Heyer und Melissa Strücken arbeiteten gemeinsam an einem Design für das Logo des Kollektivs und gestalteten außerdem Plakate und andere Werbematerialien, nachdem der Termin für die Aufführung mit Andreas Ochotta vereinbart wurde. Melissa Strücken arbeitete außerdem an Werbe-Teasern, welche bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung eine große Reichweite erzielten. Allmählich stellten wir fest, dass unsere Art, Theater bzw. Kunst zu machen, etwas ist, das in der Mönchengladbacher Kulturszene in diesem Maß bisher noch nicht stattgefunden hat. Schon jetzt und auch nochmal durch die dann folgende Öffentlichkeitsarbeit konnten die Menschen damit rechnen, dass der Besuch dieses Theaterstücks ein Besuch sein wird, der Spuren hinterlässt. Genau das war auch Laura Heyer‘s Ziel und letztlich das Ziel der ganzen Gruppe. Das Theaterstück sollte nicht der reinen Unterhaltung dienen, es sollte einen Unterschied machen, es sollte aufklären, mitreißen, bewegen und zu Verständnis anregen. Niemand sollte so aus dem Projekt 42 gehen, wie er oder sie hineingekommen war. Das Ziel war eine Veränderung.

Je mehr die Gruppe von außen als festes Kollektiv betrachtet wurde, desto mehr betrachteten sie sich auch selbst als Kollektiv. Laura Heyer arbeitete zu diesem Zeitpunkt neben dem Theaterstück an der Entwicklung der Grundsätze, des Selbstverständnisses des Kollektivs und daran, wie zukünftige Aktivitäten unter „SCHREI AUF“ aussehen könnten. SCHREI AUF war geboren und schon jetzt, ganz ohne Aufführung, waren viele der Ziele bereits erreicht: Zwölf Menschen wurden sich bewusst über ihre Stimme und ihre Präsenz, zeigten Gesicht, wurden selbstbewusster, entschlossener, mutiger und fühlten sich verbunden und nicht mehr isoliert.

Dennoch war bis zu den Aufführungen noch Einiges zu tun. Es mussten noch Texte geschrieben werden, Kostüme und Requisiten fertig gestellt und beschafft werden und Abläufe geprobt werden. Hier und da fehlte noch der Feinschliff. Mittlerweile hatte eine Fusion der Schauspieler und der Musiker stattgefunden. Die ersten Durchläufe konnten geprobt werden.

Vor den Aufführungen verbrachte das Kollektiv eine ganze Woche gemeinsam im Projekt 42 zur Fertigstellung aller Prozesse, zum Aufbau von Sitzplätzen und Gestaltung der Räume und zum täglichen mehrmaligen Proben von Durchläufen, Lichtproben und Soundproben. Die Blockwoche war für das Kollektiv wohl die intensivste, aber auch schönste Zeit, denn nun konnten sich alle voll und ganz auf das Theaterstück, auf sich selbst und die anderen DarstellerInnen konzentrieren. In dieser Woche fiel auch die Entscheidung, dass der Sound zur Begleitung der Szenen noch nicht ausgereift war. Aufgrunddessen erweiterte sich die Band um zwei weitere Musiker, die sich zutrauten, zu diesem Zeitpunkt noch einzusteigen: Henry Skibbe und Paul Schmoranzer. Obwohl die Blockwoche noch einmal bestätigte, dass sieben Monate für die Planung und Umsetzung eines anderhalbstündigen Theaterstücks in diesem Umfang, unter finanzieller Einschränkung mit größtenteils Laien eigentlich utopisch waren, konnte alles zufriedenstellend fertig gestellt werden. Zu bedenken ist auch, dass dieses Theaterstück für alle Beteiligten auch das erste Theaterstück war. Am Tag vor der Premiere wurde dann der letzte Text geschrieben und einer erfolgreichen ersten Aufführung stand nichts mehr im Wege.

Die Aufführungen fanden am 11. und 12. Mai statt und waren vollständig ausverkauft. Auf der Straße hielten sich sogar Leute auf, die Schilder mit der Aufschrift „Suche Karte“ aufzeigten. Weitere Termine waren in Planung, jedoch nicht festgelegt. Aus unterschiedlichen Gründen musste es leider bei diesen zwei Aufführungen bleiben.

Während das Publikum den Zuschauerraum betrat und seine Plätze suchte, waren auf der Bühne 12 Kinder-Puppen auf den mit Erde bedeckten Bühnenboden gelegt, die von oben angestrahlt wurden. Im Hintergrund ertönten Aufnahmen von schreienden Babys. Die SchauspielerInnen standen starr mit dem Blick zur Wand um das Publikum herum verteilt. Sobald alle Zuschauer sich hingesetzt hatten, gingen die SchauspielerInnen nacheinander hoch auf die Bühne und nahmen eine der Puppen mit in den Backstage, sodass die Bühne am Ende leer war.

In der nächsten Szene fand auf der Bühne ein Moshpit statt zu harter punkiger Musik. Nach und nach vielen mehr DarstellerInnen aus dem Moshpit in den Zuschauerraum und stellten sich wieder um das Publikum herum auf. Nachdem die letzte Person aus dem Moshpit herausfiel, schrien die Darsteller das Publikum gleichzeitig in brünstig an und begrüßten sie dann persönlich. Die DarstellerInnen trugen schwarze, zerschlissene Kleidung, schwarze Lederstiefel und hatten stark schwarz geschminkte Augen. Nur eine Darstellerin, Kira Hein, begrüßte das Publikum nicht. Sie wurde am Ende der Szene auf die Bühne getragen und in die Erde gelegt. Während einer Projektion, in der Nachrichten, Bilder aber vor allem auch heftige, destruktive Internetseiten wie z.B. Websites über Pro Ana (Pro Anorexia) oder Seiten mit gewalttätigen Inhalten gezeigt wurden, wurde die Darstellerin von einem gesichtslosen Mann in einem schwarzen Anzug mit schwarzem Hut, gespielt von Mark Lektor) weiter mit Erde begraben. Irgendwann befreite sie sich von der Erde, stand auf und sprach einen Monolog über ihren ersten Schrei als Kind und aus welchen Gründen sie genau diesen Schrei nun erneut schreit.

Als Überleitung in die Kategorie Feuer liefen die SchauspielerInnen in Dunkelheit durch das Publikum und entzündeten Streichhölzer, die sie daraufhin immer wieder auspusteten. Somit füllte sich der Raum mit einem Geruch von Rauch und mit immer wieder unterschiedlich aufleuchtenden kleinen Lichtpunkten.

In der nächsten Szene sollte das Feuer letztlich „entfacht werden“ und zum ersten Höhepunkt gelangen. Dargestellt wurde eine Clubsituation, in welcher die SchauspielerInnen verschiedene Positionen und Rollen auf der Bühne einnahmen. Alle Figuren waren betrunken oder standen unter anderem Drogeneinfluss, konnten sich schwer artikulieren und konzentrierten sich eher auf sich selbst im Zuge ihres Rausches. Inmitten dieser Szenerie kam es zu einer Vergewaltigung von einer jungen Frau, gespielt von Michelle Skropke. Die Vergewaltigung wurde in Form einer Tanzchoreographie dargestellt. Während der Vergewaltigung erstarrten die anderen Figuren, den Blick vom Geschehen abgewandt. Das vergewaltigte Mädchen verweilte als Einzige weinend auf dem Boden und wurde in der nächsten Szene von dem gesichtslosen Mann in einer mit Schlamm gefüllten Badewanne, begleitet von tragendem Stoner Rock der Band, gebadet und letztlich in der Badewanne zurückgelassen, in der sie wach wurde und langsam zu sich kam. Sie stieg aus der Badewanne hinunter ins Publikum und schrie verzweifelt mehrmals hintereinander: „Hat jemand etwas gesehen?“

Anatolij Zoblin baute in der darauffolgenden Szene aus verschiedenen Hölzern seinen eigenen Käfig, in den er sich später hineinbegab und der dann von seinen drei inneren Dämonen mit Folie umwickelt und verschlossen wurde. Im Zuge eines inneren Kampfes versuchte der Schauspieler den Käfig zu zerstören und schaffte es letztlich sich aus dem Käfig zu befreien, nachdem er alle Materialien kurz und klein geschlagen hat.

In der nächsten Szene wurde eine Auseinandersetzung zwischen einer Ärztin, Melissa Strücken,  und einer Patientin, Laura Heyer, in der Psychatrie dargestellt, in der die Ärztin auf verbale Weise übergriffig wird und die Patientin mit zunehmender Lautstärke der Ärztin zusammenbrach. Durch die Kleidung der Patientin war langsam zu erkennen, dass sie blutet.

Es folgte eine Tanzszene, die die Idee von Laura Heyer und Kathrin Neubauer aufgriff: Drei Protagonisten standen ihren Dämonen gegenüber vor einer großen Abbildung eines weiblichen Gesichts auf ein großes, weißes Stofftuch gemalt und kämpften um die Macht über Körper und Geist. Am Ende brachte ein Dämon die Schauspielerin Laura Heyer dazu, ihr eigenes Bild zu zerstören. Dabei schleuderte sie Erde und Bierflaschen gegen das Gemälde, was dazu führte, dass sich das Abbild immer mehr verzehrt. Bis zur Unkenntlichkeit. Im Anschluss der Szene wurde der Selbstmord dieser Figur angedeutet, welche kurz vor dem Umlegen einer Schlinge einen Auszug aus dem Roman „Nuewa und Er“ von Simon Fabian Kaiser vorsprach. Ob die Person sich das Leben genommen hat, wurde nicht aufgelöst.

„ Hast es nicht mehr ausgehalten, mit dem schwarzen, ruinierten, mit dem von dir selbst gemalten Bild von dir zu kollidieren (…)“

Als Überleitung in die Kategorie Wasser entwickelte die Band Sounds und Geräusche, die eine Überschwemmung bzw. einen Sturm und Regenschauer symbolisierten. Mit der nächsten Szene wurden die Zuschauer in eine imaginäre Unterwasserwelt entführt, blaues Licht, dichter Nebel, einer Tropfsteinhöhle ähnelnd. Die Protagonistin, Melissa Strücken, irrte durch den Nebel und blickte dabei immer wieder in verschiedene Spiegel. Letztlich gelang es ihr, eines der Spiegelbilder anzunehmen und sie hielt den Spiegel dem Publikum vor.

Als erster Heilungsschritt kamen die SchauspielerInnen in hautfarbener Unterwäsche nacheinander auf die Bühne, wo mittig eine metallene Waschwanne mit Wasser gefüllt aufgestellt war. An der Wanne wuschen die Figuren zunächst sich selbst und dann auch die anderen, sie berührten sich zärtlich, liebevoll, fürsorglich. Diese Szene spielte in dem Stück, aber auch im allgemeinen Prozess der Gruppe eine große Rolle, weil sie in etwa das symbolisierte, was durch die Arbeit am Theaterstück persönlich mit den Teilnehmenden passiert ist und was sie mittlerweile miteinander verbunden hat.

Zuletzt stand eine Person am Rand der Bühne und motivierte das Publikum dazu, gemeinsam ein- und auszuatmen.

Als nächster Heilungsschritt folgte eine Szene der Kampfkunst. Der Meister, Matthias Wohlkittel brachte der Schülerin, Kira Hein, bei, sich zu verteidigen. Im Zuge dessen hatten die beiden SchauspielerInnen eine detailreiche Choreographie erarbeitet. Begleitet wurde die Szene mit dem Hang Drum Spiel von Josef Jakobs.

Die nächste Szene leitete die Kategorie Luft ein. Die SchauspielerInnen positionierten sich in unterschiedlichen Körperstellungen auf der Bühne, welche vollständig mit Watte bedeckt war und wirkten lediglich bedeckt mit weißen Laken wie Statuen griechischer Götter, welche sich auf ein musikalisches Zeichen hin bewegten. In der Mitte befand sich eine Schauspielerin,Annika Beines, die im Laufe der Szene durch ein Seil am Rücken zum Schweben gebracht wurde. Plötzlich stürzte sie ab und die Szene löst sich auf, indem alle SchauspielerInnen aus ihren Rollen fallen „in Sorge“ um die möglicherweise verletzte Kollegin. Diese jedoch, nun endlich auf beiden Beinen gelandet, bekundete, dass es ihr gut ginge und beendete damit die Kategorie Luft.

Das Theaterstück endete mit einem Schattenspiel, bei dem sich alle SchauspielerInnen hinter einem weißen Stofftuch nacheinander auszogen und letztlich nackt verweilten. Vor dem Stofftuch am Rand der Bühne trugen Samson und Laura Heyer einen Text vor, der die Philosophie wieder gab, die sich während der Arbeit am Theaterstück und der Auseinandersetzung mit Zukunft und Vergangenheit herausgestellt hatte.

„Lasset uns brennen und gewahr werden, dass wenn man ein Licht im dunklen Raum anzündet, dies kleine Licht den ganzen Raum zu erhellen vermag (…) denn eine Kerze vermag es, 100 neue Kerzen zu erleuchten, ohne dass das Licht der Ersten schwindet. (….) Es reicht nicht, zu wollen! Wir müssen auch tun! (…) Wenn du träumst, dann vertraue, wenn du vertraust, dann glaube, wenn du glaubst, dann wisse und wenn du weißt, tu.“

Letztlich verschwanden auch die beiden Vortragenden hinter dem Stofftuch und zogen sich aus. Während das Publikum bereits applaudierte, sorgte Josef dafür, dass das Stofftuch hinab fiel und alle SchauspielerInnen nackt vor dem Publikum standen. Mit dieser Szene endete das Theaterstück.

„ Habe Mut zu zeigen, was in dir ist, denn vorm Leben sind wir alle nackt.“

Die Reaktionen der Zuschauer waren zum größten Teil positiv und intensiv. Viele berichteten darüber, wie sehr sie das Theaterstück bewegt und berührt hatte. Uns war bewusst, dass wir mit einigen Bildern eventuell Grenzen überschreiten würden oder dass diese Bilder zu heftigen Reaktionen führen würden. Allerdings berichteten die Meisten, am Ende des Theaterstücks wieder aufgefangen worden zu sein. Ein Zuschauer, der vor Kurzem seine Schwester verloren hatte, berichtete, dass er den Raum in der Suizid-Szene zwar verlassen musste, allerdings zurückkam und dass es ihm dabei half, den Tod seiner Schwester besser nachvollziehen zu können. Grundsätzlich übertraf das Theaterstück die Vorstellungen der Zuschauer in jeglicher Form. Weitere Zuschauer berichteten, dass sie sich selbst in dem Theaterstück wiederfanden, sich somit besser reflektieren konnten und zudem das Gefühl bekamen, mit ihren persönlichen Schwierigkeiten und Gefühlen nicht alleine zu sein. Somit lässt sich sagen, dass damit das Ziel erreicht wurde, einen Unterschied zu machen. Die Zuschauer verließen das Projekt 42 definitiv nicht so, wie sie es betreten hatten. Eine Veränderung hatte stattgefunden – ganz gleich welche.

Ein paar Wenige berichteten, dass die Szenen und Bilder ihnen teilweise zu weit gingen, dass es ihnen „zu dunkel“ war. Auch damit hatten wir gerechnet. Letztlich war nicht unser Ziel, eine emotionale Krise auf sachlicher Ebene darzustellen und vollständig zu analysieren, sondern auf subjektiver, gefühlsträchtiger Ebene Erfahrungen zu verbildlichen. Genau das war wohl auch, was viele Zuschauer so mitreißen konnte: Die echten Emotionen. Genannt wurde dabei immer die Szene, in der Anatolij Zoblin seinen eigenen Käfig erst baute und dann zerstörte. Die Emotionen auf der Bühne waren durch die SchauspielerInnen aus ihren persönlichen Erfahrungen entnommen und in ihr Schauspiel kanalisiert d.h. dass viele Emotionen tatsächlich echt waren.

Diese Tatsache oder besser Erkenntnis sollte auch in den darauffolgenden Projekten ein Alleinstellungsmerkmal werden und den Weg hin in die Performance Kunst pflastern. Dass wir performative Elemente bewusst mit in das Stück einbauten, war uns bekannt, allerdings wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass man sie als solche benennt oder dass es Performance Kunst gibt. Wir handelten intuitiv und dies stellte sich als eine Qualität heraus, die uns von vielen anderen Theaterstücken und Formen des Theaterspiels unterscheiden konnte.

Dem Ensemble wurde bewusst, dass sie gemeinsam etwas Großes erschaffen hatten, dass nicht nur Ihnen zu Gute kam, sondern auch anderen Menschen. Ihnen wurde bewusst, zu was sie in der Lage sind, wenn sie sich dafür entscheiden, an etwas festzuhalten, ihr Selbstwertgefühl war gewachsen und natürlich hatten sich auch ihre künstlerischen Fähigkeiten erweitert und vertieft. Die erfolgreiche Beendigung des Projekts, die vielen guten Reaktionen, das Gemeinschaftsgefühl, das sich entwickelt hatte, sorgte für Lust auf mehr.

Letztlich legte „SCHREI AUF!“ die Grundlage für die Gründung eines Kollektivs, die spätere Gründung eines Vereins und die Errichtung eines kleinen Kunst- und Kulturzentrums. Darüber hinaus war es die Grundlage für alle darauffolgenden Visionen, Prinzipien und philosophischen, soziologischen und emotionalen Ansätzen für die Weiterarbeit des heutigen SCHREI AUF e.V. Es ist immer noch erstaunlich, dass ungefähr im November 2016 nicht mehr existierte als eine Vision und der Glaube daran, dass sie funktionieren wird- ein so starker Glaube, dass man ihn Wissen taufen könnte.

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